Jeden Monat veranstalten wir einen Abend für Interessierte

6. Oktober: 150 Jahre sind genug - Streichung des §218 aus dem Strafgesetzbuch

Quelle: JMG/Pixelio.de

Mit dem Thema "150 Jahre sind genug - Streichung des § 218 aus dem Strafgesetzbuch" setzen wir ein kontroverses Thema. 

"Die Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs gefährdet - damals wie heute - die Gesundheit von ungewollt Schwangeren in Deutschland. Sie steht einer angemessenen Gesundheitsversorgung im Wege und verhindert die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Selbstbestimmung gebärfähiger Menschen."

Vertiefende Information und den Vortrag zum Nachlesen:

Tagesschau Bundesweit Proteste gegen Paragraf 218 (Mai 2021)

Bundeszentrale für Politische Bildung - Kurze Geschichte des § 218 (2019)

Der Spiegel Podcast Stimmenfang - Tabuthema Abtreibung: Wie Deutschland Frauen noch immer kriminalisiert (September 2020)

Frankfurter Rundschau: § 218 abschaffen! (Januar 2021)

 

Der nächste Abend mit Vortrag für Gäste und Interessierte findet statt am Mittwoch, den 6. Oktober 2021. 

Beginn ist um 19:30 Uhr im Heinesaal des Logenhauses Düsseldorf an der Uhlandstraße 38-42, eine Anmeldung via Mail ist erforderlich! Bitte beachten Sie die "3G-Regel" für den Besuch: Geimpft, genesen oder getestet.

 

Der Vortrag zum Nachlesen:

150 Jahre §218 im Strafgesetzbuch – wie die Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs auch heute noch die Selbstbestimmung und die angemessene gesundheitliche Versorgung schwangerer Frauen verhindert

ein Vortrag von Barbara R. am 6. Oktober in der Freimauerinnenloge CONSTANTIA 

„Die §§218 bis 219a StGB verletzen nicht nur die Würde der Frau, sondern verstoßen zu dem gegen das Gebot der weltanschaulichen Neutralität des Staates“, so fasst der Vorstand der Giordano-Bruno-Stiftung die Debatte um den §218 im Jahr 2021 zusammen. Diese Stiftung, die sich für die Fortschreibung der Aufklärung im 21. Jahrhundert einsetzt, kommentiert weiter: „die verfassungs-widrige Bevormundung von Frauen und ihren Ärzt*innen ist ein Relikt obrigkeitsstaatlichen Denkens des vorletzten Jahrhunderts und verstößt aufgrund ihrer auf religiösen Dogmen beruhenden Begründung diametral gegen das Gebot der weltanschaulichen Neutralität des Staates“.

Eine steile These? Keineswegs,

ich werde in meinem Vortrag zeigen, aus welchen Gründen es in Deutschland vor 150 Jahren zur Kriminalisierung eines Schwangerschaftsabbruches gekommen ist und warum der §218 bis heute Bestandteil des Strafgesetzbuches ist,
dass es den sich selbst sogenannten „Lebensschützern“ zu keiner Zeit, auch heute nicht, um den Schutz von Leben geht,
dass die Beibehaltung des §218 nach wie vor auf einem erzkonservativen Weltbild fußt, das Frauen die gleichen Rechte aufgrund ihrer angeblichen Minderwertigkeit verwehrt, und letztlich wie durch eine Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs durch Streichung der §§218 und 219 die Lebenswirklichkeit vieler Frauen und Familien verbessert werden kann.

Das Abtreibungsverbot wurde 1871 im Strafgesetzbuch des Deutschen Kaiserreichs (RStGB) mit den §§218 bis 220 unter der Rubrik „Verbrechen wider das Leben“ verankert. Vorausgegangen war ein gesellschaftlicher Paradigmenwechsel: Ab dem 19. Jahrhundert wurde die Vereinigung von Ei und Samenzelle als Vorstufe zum Menschsein gewertet. Vorher hatte die Kirche noch angenommen, dass die Beseelung und damit Menschwerdung des Embryos erst ab etwa dem fünften Schwanger-schaftsmonat erfolgt und damit die Voraussetzung für die Aufnahme der §§218-220 in das Reichsstrafgesetzbuch als Tötungsdelikt festgelegt, abgeleitet aus dem Kirchenrecht Bestrafung des „Abgangs einer lebendigen Frucht“. Die 1871 im RStGB verankerte Neudefinition der Abtreibung als ein Vergehen ab dem Zeitpunkt der Zeugung ging auf die im 18. Jahrhundert einsetzende embryologische Forschung zurück. Anatomen begannen mit dem Blick ins Leibesinnere von stigmatisierten, unehelich schwangeren Frauen und etablierten einen gesellschaftlichen Diskurs über den Uterus als reines Gefäß, mit der Aufgabe, Föten heranwachsen zu lassen. Die stetig sinkende Geburtenrate im Kaiserreich bei gleichzeitig steigendem Bedarf an industriellen Arbeitskräften hob die strafrechtliche Frage des Schwangerschaftsabbruchs schließlich über die rein juristische Betrachtung in gesellschaftliche Dimensionen, da die Befürchtung einer „Entvölkerung“ der Nation, der es nicht nur zur Erhaltung der „Arbeits- und Wehrkraft“ entgegenzusteuern galt. Beinahe gleichzeitig formierte sich die Bewegung der Rassenhygiene und Eugenik. Sie warf die Frage nach der ‚biologischen Qualität‘ ‚künftiger Bürger‘ auf und forderte die Legalisierung des medizinischen Schwangerschaftsabbruchs als Instrument der ‚Rassenverbesserung‘: In Europa und den USA hatte man damit begonnen, unter einer eugenischen Zielsetzung neben Sterilisationen und Kastrationen auch Abtreibungen vorzunehmen. Frauen aus dem Armutsmilieu wurden schon im Kaiserreich zu Objekten rassenhygienisch indizierter Operationen, um ‚den Volkskörper‘ von so bezeichnetem ‚Minderwertigen‘ zu ‚reinigen‘. Bereits hier ist angelegt, was später unter dem Deckmantel des sogenannten „Lebensschutz“ lautstark, gefordert wird: Die Entrechtung der Frau mit dem Zweck einer völkisch-nationalen Gesellschaftsordnung, die „ausgewähltes, gewünschtes“ Leben hervorbringt und Frauen auf die Rolle eines Gebärgefäßes für eben dieses genormte Leben reduziert. 

Die §§218 bis 220 des Reichsgesetzbuches von 1871 etablierten ein geschlechter- und berufspolitisches Machtverhältnis langfristig, denn diese Paragrafen bezogen sich auf drei Personengruppen mit jeweils unterschiedlichen Strafzumessungen: Schwangeren Frauen drohte bis zu fünf Jahren Zuchthaus, bei mildernden Umständen nicht unter sechs Monaten Gefängnis, wenn sie einen Abort selbst auslösten oder in eine Abtreibung durch Dritte einwilligten (§218). Eine „gegen Entgelt“ geleistete Beihilfe, die bevorzugt im Rahmen eines weiblichen Netzwerks beansprucht wurde, war mit bis zu zehn Jahren Zuchthaus (§219) bestraft.

§220 regelte die „Tötung der Leibesfrucht ohne Wissen und Willen der Schwangeren durch Dritte“. Dieser Paragraf bezog sich auf die ärztliche, unter Narkose durchgeführte Abtreibung und belegte sie mit Zuchthaus nicht unter zwei Jahren. Starb die Frau an der Operation, drohte eine Haftverlängerung um zehn Jahre bis lebenslänglich. Eine Straftat dieser Art war ein historisches Novum, denn erst im Zuge der Entwicklung der Chirurgie und Anästhesie erprobten Gynäkologen im 19. Jahrhundert auch Methoden der operativen Abtreibung. Die Gründe für solche Eingriffe konnten unterschiedlich sein: So nahm man beispielsweise Schwangerschaftsabbrüche vor, um die Frau vor einer akuten physischen Bedrohung zu bewahren. Selbst wenn ein lebensrettender Eingriff als entschuldbare Notstands-handlung auslegbar (§ 54 RStGB) war, blieb die Abtreibung für Ärzte durch die Paragrafen 219 und 220 strafbar.

Die Verschmelzung des nationalstaatlichen Interesses an einer hohen Bevölkerungszahl mit der bürgerlichen Sexualmoral bereitete den Boden für die Strafverfolgung der sich ausbreitenden Geburten-kontrollpraxis: Als Bestandteil der Kampagne gegen die ‚kriminelle Fruchtabtreibung‘ wurden 1900 der Verkauf „unzüchtiger Schriften“ sowie der Handel mit „Gegenstände[n], die zu unzüchtigem Gebrauche bestimmt sind“, in den Unzuchtparagrafen aufgenommen und der Vertrieb von Verhütungsmitteln sowie deren Werbung mit Gefängnis bis zu einem Jahr oder einer Geldstrafe bis zu 1000 Mark belegt (§184, Abs. 3 RStGB).

Die öffentliche Debatte rund um den §218 bewegt sich seit seiner Einführung in einer Abwägung zwischen vermeintlichem Lebensrecht des Embryos und dem Selbstbestimmungsrecht der schwangeren Person. Beim genaueren Blick in seine Entstehungsgeschichte und Argumentationslinien seiner Fürsprecher*innen, drängt sich jedoch der Eindruck auf, dass dieser moralisch und religiös aufgeladenen Frage häufig die Sorge um niedrige Geburtenraten voranging. So kommt der Jurist Dirk von Behren, der den Paragrafen und seine Folgen 2004 umfassend untersucht hat, zu dem Schluss, dass die Maximen des Schutzes und der Unantastbarkeit des „ungeborenen Lebens“ häufig „nur als Vorwände für bevölkerungspolitische Nützlichkeitskriterien“ gebraucht wurden. 

Dies lässt sich besonders an den Änderungen des §218 in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfolgen, wie ich später noch aufzeigen werden.

Nun zuerst zur Wirkung dieses Abtreibungsverbots: Im Hinblick auf die tatsächliche Abtreibungssituation in Deutschland muss anerkannt werden, dass der §218 sein Ziel verfehlte. Statt Abtreibungen durch den Effekt der Strafandrohung zu verhindern, stieg die Zahl der verurteilten Abtreibungen von 1882 bis 1908 um das Vierfache, nämlich von 191 auf 773. Diese Zahl liegt natürlich weit unter den tat-sächlichen Abtreibungen, die schätzungsweise zwischen 200.000 und 400.000 jährlich lagen. Unzählige illegale und unsichere Abbrüche waren die Folge und führten nicht selten zum Tod der Schwangeren und des Embryos. Gesundheitliche und rechtliche Risiken trafen fast ausschließlich Schwangere aus der Arbeiter*innenklasse, einfach, weil sie sich keine angemessene medizinische Unterstützung und auch keine Verhütungsmittel leisten konnten. Diese Situation machte den §218 zum sogenannten „Klassenparagrafen“, und das, bis heute.

Aufgrund dieser entsetzlichen Lage vieler Arbeiterinnen brachte schließlich der Bund Deutscher Frauenvereine 1909 die erste Petition für eine Reform des §218 in den Reichstag ein und schlug Straf-freiheit in Zusammenhang mit einer Fristenlösung vor. Eine Petition, damals die einzige Möglichkeit für Frauen ein männergemachtes Gesetzt, das ausschließlich das Leben von Frauen regelte, öffentlich zu kritisieren, da das Frauenwahlrecht zu dieser Zeit in Deutschland noch nicht erkämpft war.

Auf die Frage von ungeplanten Kindern und die damit zusammenhängende Frage des §218 StGB sagte Camilla Jellinek, Vorstandsfrau im Bund Deutscher Frauenvereine: „Man pflegt doch meist sehr konservativ zu sein in Dingen, über die man nicht genügend nachgedacht.“ 

Der Reichstag lehnte die Petition klar ab. Die seit 1900 rückläufigen Geburtenzahlen, in der öffentlichen Debatte u.a. zur „Entvölkerungsgeißel“ dramatisiert, hatte eine pronatalistische Bevölkerungspolitik in Gang gebracht, deren Ziel es war, durch Abtreibungs- und Verhütungskontrolle den Nachwuchs an Soldaten und Arbeitskräften zu sichern. Die proletarische Frauenbewegung wehrte sich schon 1913 kurz vor dem ersten Weltkrieg gegen die staatliche und militärische Instrumentalisierung gebärfähiger Körper und rief zum Gebärstreik auf.

In der Weimarer Republik schafften Liberalisierungstendenzen eine kurze Zeit lang Raum für eine gesellschaftliche Debatte zwischen Abtreibungsgegner*innen und Gegner*innen des sog. „Gebärzwangs“. Aus der Not heraus bildete sich ein Netzwerk von Beratungsstellen, die ungewollt Schwangeren sichere Abbrüche bei willigen Ärzt*innen vermittelten. Allen voran der Bund für Mutterschutz und Sexualreform, dessen Forderungen noch heute aktuell und nicht eingelöst sind: freier Zugang zu Verhütungsmitteln, progressive Sexualaufklärung und die Abschaffung des §218. 

Zu letzterem kam es nicht, wohl aber zu einer kleinen Reform. Das Parlament einigte sich 1926 auf einen Minimalkonsens und verabschiedete Herabstufung von Schwangerschaftsabbrüchen von „Verbrechen“ auf “Vergehen“, die milder bestraft wurden. Zudem wurde durch ein Reichsgerichts-urteil 1927 die Zulässigkeit einer medizinisch begründeten Abtreibung erwirkt. Sie galt noch bis in die 70er Jahre der BRD als legislativer Ersatz für die medizinische Indikation.

1931 wurde dennoch die Ärztin Else Kienle wegen Verstoßes gegen den §218 verhaftet. Diese Ver-haftungen lösten eine der größten Protestbewegungen der Weimarer Republik aus, nicht zuletzt, weil ihre Patientinnenkartei zur Strafverfolgung offengelegt wurde. In der fünfmonatigen Untersuchungs-haft begann die 31-jährige Ärztin ihre Erfahrungen aus der Praxis aufzuschreiben. Bereits ein Jahr später veröffentlichte sie diese unter dem Titel Frauen. Aus dem Tagebuch einer Ärztin, eine lebensnahe und bis heute verstörende Sammlung von Beobachtungen, Analysen und Forderungen.

Im Zusammenhang mit den Memminger Prozessen wurde ihr Tagebuch 1989 wieder neu aufgelegt und mit erläuternden Vor- und Nachworten versehen, u.a. vom damals angeklagten Gynäkologen Horst Theissen, dessen Patientenkartei ebenfalls von der bayrischen Staatsanwaltschaft beschlag-nahmt worden war.  

Zurück ins Jahr 1933: Die Nazis zeigten nach ihrer Machtergreifung offen ihre bevölkerungspolitische Motivation. Der Schwangerschaftsabbruch wurde aus den Tötungsdelikten in einen neuen Abschnitt „Angriffe auf Rasse und Erbgut“ überführt, der es der Judikative erlaubte, zu entscheiden, welches Leben „geschützt“ werden sollte. Neben der medizinischen wurde die eugenische Indikation eingeführt, die nach dem Prinzip „Auslese“ und „Ausmerze“ Schwangerschaftsabbrüche von Jüdinnen, Romnja und Sintezzi, „Behinderten“ und sog. „Asozialen“ komplett legalisierte bzw. sogar erwirkte und die restlichen unter Todesstrafe stellte. Dies war „Lebensschutz“ in der Blut-und-Boden-Ideologie des Nationalsozialismus, in dem die „arische Frau“ auf der Rolle der Mutter eingeschworen und zu völkischen Zwecken überhöht und instrumentalisiert wurde.

Die Alliierten schafften die NS-Strafrechtsnovelle nach der Befreiung zwar ab, Abtreibung und Verhütungsmittel blieben jedoch nach dem 2. Weltkrieg weiterhin verboten.

Ich hoffe, es ist deutlich geworden, in welcher Tradition die radikalen, sich selbst so bezeichnenden „Lebensschützer“ stehen, die auch heute noch den Fortbestand des Schutz des deutschen Volks-körpers fordern, dabei Ärzt*innen als Kindsmörder beschimpfen und ihnen zerstückelte Babypuppen vor der Haustüre legen und Morddrohungen in den Briefkasten stecken. Gleichzeitig haben sie aber keinerlei Probleme, sondern halten es oft sogar für angezeigt, nicht der Norm entsprechende Föten und Menschen „auszusortieren“.

In den konservativ geprägten 50er und 60er Jahren der BRD wurden bevölkerungspolitische Ziele laut, die im Lichte des Kalten Krieges die Mehrkinderfamilie als „Kraftquelle des Staates“ zeichneten. Entsprechend wurde an der generellen Strafbarkeit des Abbruchs festgehalten. Gegen diesen Stillstand wehrte sich mit bisher ungekannt lauten Mitteln die neue Frauenbewegung der 70er Jahre. Erstmals ging es explizit um das Selbstbestimmungsrecht der Frauen, die unter dem Motto „Mein Bauch gehört mir“ auf die Straße gingen, oder Abtreibungsfahrten ins liberale Holland organisierten. Neben der von Alice Schwarzer organisierten erfolgreichen Stern-Kampagne „Wir haben abgetrieben“ erhöhten die Proteste der Aktion 218 den Druck auf den Gesetzgeber derart, dass 1974 im Bundestag eine Fristenlösung mit Straffreiheit bis zur 12. Woche verabschiedet wurde. Das Bundesverfassungsgericht, angerufen von CDU/CSU kassierte die Reform umgehend und etablierte sich somit langfristig als Schützerin des „sich entwickelnden Lebens“, welches „Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Frau“ habe. Der Bundestag steuerte nach und verabschiedete das Indikationsmodell, dass die soziale Lage der Schwangeren als sog. „Notlagenindikation“ anerkannte. „Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“, so lautet heute der erste Satz des §218 StGB. Diese Kriminalisierung von Abtreibungen wird zwar durch den seit 1974 bestehenden mehrfach reformierten §218a aufgeweicht, Probleme haben ungewollt Schwangere trotzdem. Straffrei bleiben Schwangerschaftsabbrüche, wenn die schwangere Person in Folge sexualisierter Gewalt schwanger geworden ist, wenn die Gesundheit der schwangeren Person bedroht ist, oder unter der Bedingung, dass die schwangere Person den Abbruch innerhalb der ersten 12 Wochen (nach der Empfängnis) nach einer sogenannten „Schwangerschaftskonfliktberatung“ sowie einer dreitägiger „Bedenkzeit“ durchführen lässt.

Das Zusammenspiel zwischen konservativen Kräften im Bundestag und dem nicht minder konservativem Bundesverfassungsgericht sollte sich 1993 nach der Wiedervereinigung noch einmal sehr ähnlich wiederholen. Statt die 1972 eingeführte liberale Fristenlösung ohne Beratungspflicht der DDR für das vereinte Deutschland zu übernehmen, bleibt der §218 leicht verändert bestehen und das obwohl sich die ostdeutsche Frauenbewegung – vor allem der Unabhängige Frauenverband – vehement dagegen gewehrt hatte. Die gemeinsame Hoffnung von ost- und westdeutschen Feministinnen, den kostenfreien Zugang zu legalen Abbrüchen, noch dazu ohne Angabe von Gründen, für die gesamte BRD zu übernehmen wurde enttäuscht und endete in einem „Kompromiss“, der keiner war. Der Schwangerschaftsabbruch ist nach wie vor „rechtswidrig“ und nur unter bestimmten Bedingungen, wie Pflichtberatung und drei Tage „Bedenkfrist“, straffrei. Die Pflichtberatung soll zwar „ergebnisoffen“ geführt werden, dient aber explizit dem „Schutz des ungeborenen Lebens“. So steht es unverändert seit 1995 im StGB. Eine Abtreibung ist unter bestimmten Umständen eine straffreie Straftat: Sofern es die „zumutbare Obergrenze“ nicht übersteige, sei Frauen vom Staat „die grundsätzliche Rechtspflicht auferlegt, ein Kind auszutragen“. Unverändert schützt auch der Staat seit mehr als 150 Jahren die göttliche Schöpfung und die werdenden Staatsbürger*innen vor dem Bedürfnis gebärfähiger Menschen, über ihren Körper und ihre Lebensplanung selbst zu entscheiden. 

Fest steht, bei der Frage um Zulässigkeit oder Strafbarkeit von Schwangerschaftsabbrüchen werden grundlegende Haltungen zu Geschlechterverhältnissen verhandelt und damit auch patriarchale Machtansprüche.
Doch die Rechtsauffassung ändert sich. Prof. Dr. Ulrike Lembke, Humboldt-Universität Berlin, erklärt auf dem Fachkongress zu "150 Jahre §218 Strafgesetzbuch" im August 2021:

„In einer Rechtsordnung, welche nicht einmal eine Blutspende zur Rettung aus Lebensgefahr erzwingen lässt, ist eine erzwungene Schwangerschaft die größtmögliche Verletzung der körperlichen und seelischen Integrität einer Person, die nicht schwanger sein will. Die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs gehört nicht ins Strafgesetzbuch! Strafwürdig ist er [der Abbruch] nur, wenn er gegen den Willen der Schwangeren erfolgt. Dann allerdings liegt aufgrund der Schwere der Folgen eine schwere Straftat vor.“

Im Grußwort der Schirmfrauen des diesjährigen Fachkongresses Bundestagspräsidentin a.D. Prof. Dr. Rita Süssmuth und Bundesministerin a.D. Dr. Christine Bergmann sagt Professorin Süssmuth:

„Wir müssen das Misstrauen gegenüber Frauen, Ärztinnen und Ärzten sowie Beratungsstellen überwinden und aus der reinen Strafrechtsdiskussion herauskommen.[...] „Dazu brauchen wir Vertrauen zu den Menschen, dass sie verantwortungsvoll handeln. Es geht um mehr als um das Selbstbestimmungsrecht der Frau, es geht um das Entscheidungsrecht in einem Gewissenskonflikt.“

Und damit nennt sie den Kern der heutigen Debatte: solange das Strafrecht schwangere Frauen als potentielle Straftäterinnen, die leichtfertig und unüberlegt handeln und deshalb ihnen das Recht selbst zu entscheiden, verweigert, solange werden Frauen per Gesetz diskriminiert, da per se keine Akzeptanz von Frauen als vernunftbegabte, moralische gefestigte Wesen besteht.

Aufgrund dieser §§ werden Frauen vor Arztpraxen bedroht und am Betreten dieser gehindert, müssen Frauen zunehmend häufig Odysseen unternehmen, um sich überhaupt über Möglichkeiten eines Schwangerschaftsabbruches informieren zu können, müssen Frauen alleine den medikamentösen oder ambulanten Eingriff bezahlen. 

Ein weiterer Schritt, der sich in Deutschland zunehmend schwierig gestaltet, ist die Suche nach Gynäkolog*innen, die Schwangerschaftsabbrüche überhaupt durchführen. In den letzten Jahren wurden Ärzt*innen, die auf ihrer Webseite darüber informierten, dass bzw. mit welchen Methoden sie Abtreibungen vornehmen, immer wieder kriminalisiert und von Fundamentalist*innen und Rechten bedroht. Folgerichtig sinkt die Anzahl der Praxen, die überhaupt Schwangerschaftsabbrüche durchführen drastisch. Laut der Initiative Mehr als du denkst – Weniger als du denkst hat sich die Anzahl in Deutschland in den letzten 15 Jahren nahezu halbiert. In Köln zum Beispiel, einer Stadt mit mehr als einer Millionen Einwohner*innen, gibt es offiziell nur noch vier Einrichtungen, in Münster und Tübingen jeweils nur eine, in Regensburg sogar gar keine, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. „Das Bewusstsein, dass das eine politisch notwendige Sache ist, fehlt heute komplett“, findet Marianne Weiß von Pro Familia Augsburg. In Bayer findet ein Drittel aller durchgeführten Schwangerschafts-abbrüchen in der Praxis von Dr. Friedrich Stapf, München statt, ca. 3500 im Jahr.

 „Ich mach’ das aus Überzeugung“, sagt Stapf. Eine Überzeugung, die aus Erlebnissen während seiner Studienzeit erwachsen ist. „Ich habe während meines Studiums in der Klinik in Wiesbaden miterlebt, wie täglich Frauen nach einem illegalen Abbruch halbtot mit Blaulicht gebracht wurden, das prägt“, sagt Stapf, der im Internet mit den Begriffen Massenmörder, Babykiller und Monster belegt wird. Stapf ist inzwischen 74 Jahre alt, er bringt es aber nicht übers Herz in Ruhestand zu gehen, da dann die Versorgung in Bayern vollends zusammenbrechen würde.

Die strafrechtliche Regelung ist eine der Ursachen dafür, dass in vielen Regionen Deutschlands derzeit erhebliche Versorgungslücken bestehen. Das Strafrecht erschwert die Professionalisierung der medizinischen Aus- und Weiterbildung zum Schwangerschaftsabbruch und setzt Ärztinnen und Ärzte unter Druck, an den meisten Universitäten gehört ein Schwangerschaftsabbruch nicht zum Lehrkanon, Kliniken sind nicht verpflichtet, den Schwangerschaftsabbruch in ihren Leistungskanon aufzunehmen. Selbst lebensrettende Versorgungen einer Schwangeren, die möglicherweise mit dem Verlust des Embryos einhergeht, wird an einigen konfessionellen Krankenhäusern verweigert, da die katholische Kirche alle direkten Abtreibungen ablehnt und sie verurteilt. Selbst Schwangerschaften, die durch Vergewaltigung, Inzest und eine Gefahr für das Leben der Mutter entstehen, sind keine Gründe für eine Abtreibung. Diese Kliniken sind in kirchlicher Trägerschaft, aber weitgehend durch öffentliche Mittel finanziert.


Was muss also geschehen?

Würde eine Entkriminalisierung der ungewollt schwangeren Frauen also alles besser machen? Es lohnt sich zu einer Beurteilung, erst einmal die Fakten einzuholen: In Deutschland gibt es relativ stabil ca. 100.00 Abtreibungen pro Jahr, 96% dieser Eingriffe erfolgen nach der Pflichtberatung, sind also Abbrüche aus persönlichen Gründen. 60% aller Abbrüche erfolgt bei Frauen, die bereits Mutter sind.
In Frankreich, Irland, GB, Spanien, Schweden, Italien, der Schweiz, den Niederlanden, Argentinien, Neuseeland und Kanada sind Schwangerschaftsabbrüche legal und ohne juristische Schuldzuweisungen möglich.
In Kanada, wo seit inzwischen 30 Jahren der Schwangerschaftsabbruch nicht gesetzlich geregelt ist, funktioniert es.

Die Zahlen der Abbrüche sind kontinuierlich zurückgegangen. 90 Prozent der Abbrüche finden – wie in anderen Ländern auch – vor der 12. Schwangerschaftswoche statt. Abbrüche nach Ablauf dieser Frist erfolgen meist aus medizinischen Gründen. Die Vorstellung, dass Frauen bei völliger Legalität "einfach so" noch im 8. Monat abtreiben würden, speist sich aus einer frauenverachtenden Fantasie; in der Realität ist sie unhaltbar. Weltweit zeigt sich, dass Länder, die liberale Abtreibungsgesetze haben, auch die Länder mit den wenigsten Schwangerschaftsabbrüchen sind. Offenbar verhindern nicht Zwang und Kontrolle ungewollte Schwangerschaften, sondern es ist eine Atmosphäre, in der Sexualaufklärung, günstige oder kostenlose Verhütungsmittel und ihre Selbstbestimmung in den Händen der Betroffenen liegen. Wenn die Komplexität der Frauengesundheit anerkannt wird, funktioniert sie auch am besten.

In diesem Sinnen tritt auch der Fachkongress 150 Jahre §218 Strafgesetzbuch für die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs ein. Eine Neuregelung müsse sich an den gesundheitlichen Belangen und der Selbstbestimmung von schwangeren Personen in ihren vielfältigen Lebensrealitäten orientieren und internationale Menschenrechtsnormen respektieren. So fordert der Ausschuss für die UN-Frauenrechtskonvention schon lange Deutschland auf, die Pflichtberatung und die Wartefrist abzuschaffen und den Schwangerschaftsabbruch als Krankenkassenleistung anzuerkennen.

Die Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs gefährdet – damals wie heute – die Gesundheit von ungewollt Schwangeren. Sie steht einer angemessenen Gesundheitsversorgung im Wege und ver-hindert die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Selbstbestimmung gebärfähiger Menschen.

Der Fachkongress „150 Jahre §218“ endete mit einer gemeinsamen Abschlusserklärung zur Streichung der §§218, 219 aus dem Strafgesetzbuch. Erstunterzeichner*innen sind z. B. der Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e.V., der Arbeitskreis Frauengesundheit e.V. Doctors for Choice Germany e.V., aber auch Einzelpersonen z. B. Professor Dr. Ulrike Lembke, die Journalistin Theresa Bücker und die Frauenärztin Dr. Kristina Hänel. Wir können jede für sich ebenfalls die Abschlusserklärung zeichnen, ich würde mir aber auch sehr wünschen, dass die Freimaurerinnenloge Constantia diese Abschlusserklärung unterzeichnet. 

Zum Abschluss möchte ich noch einmal die Aussage von Professorin Rita Süssmuth wiederholen: „Wir müssen das Misstrauen gegenüber Frauen, Ärztinnen und Ärzten sowie Beratungsstellen überwinden und aus der reinen Strafrechtsdiskussion herauskommen.“[...] „Dazu brauchen wir Vertrauen zu den Menschen, dass sie verantwortungsvoll handeln. Es geht um mehr als um das Selbstbestimmungsrecht der Frau, es geht um das Entscheidungsrecht in einem Gewissenskonflikt.“

 

Quellen, auf deren Grundlage dieser Vortrag entstanden ist:

  • ARIADNE – Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte, Heft 77 Unfruchtbare Debatten 150 Jahre gesellschaftspolitische Kämpfe um den Schwangerschaftsabbruch.AddF, Kassel 2021
  • Bücker, Theresa: Ist es radikal, zuhause abzutreiben?. in: Süddeutsche Zeitung Magazin, 2.02.2021, Teresa Bücker über Abtreibung - SZ Magazin (sueddeutsche.de)
  • Lembke, Ulrike, Prof. Dr., Eine medizinische Dienstleistung als Tötungsdelikt, in: Schwangerschaftsabbruch: Immer noch ein Tötungsdelikt - Seite 3 (lto.de)
  • Notz, Gisela: Der § 218 : immer noch ein umkämpftes Thema, in: Femina politica : Zeitschrift für feministische PolitikWissenschaft, Jg. 25 (2016) Nr. 2, 163-167. DOI: https://doi.org/10.25595/530.
  • Rath, Christian Dr. Kritik an der Karlsruher Gebärpflicht, Legal Tribune Online, 30.08.2021
  • Schmidt-Salomon, Michael, Dr. #wegmit218 | Giordano Bruno Stiftung (giordano-bruno-stiftung.de)
  • Stettin, Isabel Noch immer sind Abtreibungen rechtswidrig. Was das für diese und viele andere Frauen bedeutet. in: Stern 23/2021, 2.06.2021
  • Wolff, Kerstin Abtreibungsgeetze: 150 Jahre §218, in EMMA, 12.05.2021
  • Heinrich-Böll-Stiftung, Gunda Werner Institut Feminismus und Geschlechterdemokratie 150 Jahre §218 Zwischen Kriminalisierung und Widerstand
  • 150 Jahre Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs | Giordano Bruno Stiftung (giordano-bruno-stiftung.de)
  • Fachkongress 150 Jahre §218, 27.- 28.08.2021, Berlin Abschlusserklärung 
  • www.150Jahre§218.de
  • 150 Jahre §218: Selbstbestimmung zwischen Gesundheitsversorgung und Strafrecht, 
  • Online-Podiumsveranstaltung: 150 Jahre §218, 10. Mai 2021, 18:00 Uhr
  • KOOPERATIONSVERANSTALTUNG PRO FAMILIA LANDESVERBAND BAYERN UND HOCHSCHULE LANDSHUT