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Freimaurerinnen für Toleranz

Toleranz – eine mögliche Antwort auf Probleme in einer immer komplexer werdenden Welt?

Ein Diskussionsbeitrag von B. Rüth zum Toleranzabend
in der Stadtbücherei Düsseldorf-Wersten am 25.10.2019

 
Kaum eine Haltung hat eine derartig steile Karriere aufzuweisen wie die der Toleranz. Die Toleranz ist ein Produkt der Aufklärung, also des ausgehenden 18. Jahrhunderts – damals allerdings mit dem Fokus auf Religion und Weltanschauung. John Stuart Mill radikalisierte im 19. Jahrhundert den Begriff, indem er ihn auf Gruppen und Einzelne anwendete (1). Dies ist im Wesentlichen der heutige Stand.
Wenn es um den Begriff „Toleranz“ geht, fallen oftmals Wörter wie Duldsamkeit, Verständigungsbereitschaft, Nachsicht, Flexibilität und Entgegenkommen. Ganz nach dem umgangssprachlichen Motto:

„Jeder soll jedem verständnisvoll zunicken und so tun, als gäbe es zwischen Gut und Böse, Recht und Unrecht überhaupt keinen Unterschied.“ 

Doch laut Domanyi (2003) besteht der eigentliche Sinn der Toleranz im Gemeinschaftserhalt, in Form von unterschiedlichen Ansichten und Lebensäußerungen.
Offensichtlich ist der Toleranzbegriff schnell missverständlich oder wie Mitcherlich sagt „schwammig“ (2). Er hat im Laufe der Geschichte mehrere Bedeutungsänderungen erfahren, wobei die verschiedenen Begriffsdeutungen heute zum Teil nebeneinander und konkurrierend verwendet werden.

Nun, was genau meint nun Toleranz, wie ist sie zu definieren und welche Kriterien machen sie aus? Diese Fragen möchte ich im Folgenden näher beleuchten, um ausgehend von einer gemeinsamen Grundlage ihre Bedeutung in unserer heutigen pluralistischen Gesellschaft bewerten zu können.

Bei der Beleuchtung des Toleranzbegriffes beziehe ich mich neben klassischen Quellen wie Voltaire (3) und Locke (4) auf Prof. Rainer Forst, der eine umfassende Analyse des Toleranzbegriffes zur Verfügung stellt (5), auf die Schrift „Toleranz und Religionsfreiheit“ von Karl Kardinal Lehmann, den Festvortrag anlässlich des Leibniztages 2002 von Jürgen Habermas „Wann müssen wir tolerant sein?“ und auf die 1995 von der UNESCO veröffentlichten Erklärung über die Prinzipien der Toleranz.

Als Basisdefinition möchte ich zunächst folgenden allgemeinen Satz anbieten, der in verschiedenen Ethik-Lexika zu finden ist:

„Toleranz ist die Duldung von unüberwindbaren Differenzen in Fragen des Glaubens oder grundsätzlicher Überzeugungen. Ihr Gegensatz ist auf der einen Seite Intoleranz, auf der anderen Seite Indifferenz.“ (6)

Im Begriff „Toleranz“ ist also stets eine Ablehnungskomponente enthalten, denn Toleranz kann nur geübt werden, wenn der, der toleriert, eine andere, grundsätzlich verschiedene Vorstellung, Lebenshaltung oder Überzeugung besitzt, als derjenige, dessen Glaube bzw. Überzeugung toleriert wird. Daraus lässt sich ableiten, dass Toleranz einen eigenen klaren Standpunkt zur betrachteten Frage voraussetzt und keineswegs dazu führt, dass dieser Standpunkt aufgegeben werden muss. Im Gegenteil: nur solange, wie die Überzeugungen widerstreitend sind, kann Toleranz geübt werden.

Wie kommt es nun aber, dass Toleranz zwar in aller Munde ist und niemand sich sagen lassen möchte, er sei nicht tolerant, dass andererseits Toleranz in der gesellschaftlichen Debatte einmal vehement eingefordert wird und ein anderes Mal einen nachhaltig arroganten Beigeschmack bis hin zu einer grundsätzlich negativen Bewertung besitzt? Um diesen Sachverhalt verstehen zu können, müssen wir die Geschichte des Toleranzbegriffes betrachten.

„Tolerantia, das wohl zum ersten Mal bei Cicero 46 v. Chr. vorkommt, bedeutet ganz im stoischen Sinne Ertragen des Schicksals [...]. Tolerantia beschreibt das Verhalten zu sich selbst und gehört in die Ethik der Selbstbeherrschung.“ (7)

Der Begriff Toleranz hat seinen Ursprung im lateinischen Wort „tolerare“. Dies bedeutet erdulden, ertragen und erleiden des anderen (vgl. Domanyi 2003). In der frühchristlichen Prägung erscheint tolerantia in lateinischen Bibelübersetzungen zunehmend im Sinne von Geduld, Ausdauer und Standhaftigkeit. Besonders Augustinus sieht in der tolerantia eine soziale Grundtugend, die für ein friedfertiges und einträchtiges Leben in der Gemeinde von fundamentaler Bedeutung ist.

Im Mittelalter ist der Toleranzbegriff weitgehend vom Ringen um die Religionsfreiheit geprägt, eine wichtige Stufe in der Ausbildung des neuzeitlichen Toleranzverständnis´ ist bei Nikolaus von Kues (1401 – 1464) zu finden. Cusanus strebt einen „Frieden im Glauben“ an, der auf der Übereinstimmung bezüglich einer wahren Religion beruht, die eine Verschiedenheit von Bräuchen und Kulturen zulässt. Lessing greift später (1779) im Nathan der Weise in seiner Ringparabel diesen Gedanken auf und bezieht ihn auf die Gleichwertigkeit des Juden-, Christentums und des Islams. Cusanus betrachtete bereits die Vielgestaltigkeit religiöser Ausdrucksformen nicht mehr als Quelle des Irrtums, sondern als eine Chance zur Vermehrung der Frömmigkeit. Die Unterschiede der Religionen legitimierten für ihn keine Gewaltanwendung. Die Toleranzschrift des Kardinals von Kues gilt deshalb als ein Meilenstein der Toleranzidee, auch wenn er anders als Denker der Aufklärung  die Vielheit nicht als Ausdrucksform einer schlechterdings unerreichbaren allgemeinen Wahrheit betrachtete. 

In der Zeit der Reformation und Gegenreformation blieb von dieser Idee zunächst nicht viel übrig. Heinz Schilling schreibt in seiner Luther-Biographie: 

„Luther war Toleranz in modernem Sinne fremd. Eine Pluralität religiöser Wahrheit konnte er sich nicht vorstellen.“ (8)

Der Begriff der Toleranz findet sich daher in den Friedensdokumenten der Reformationszeit kaum oder erscheint gar nicht. Gedanken des Friedens und der Eintracht bestimmten jedoch durchaus die damalige Wertevorstellung, so z. B. im Augsburger Religionsfrieden von 1555. Die danach folgenden verheerenden Kriege in Europa und die Einsicht, dass verschiedene unvereinbare Religions- und Weltanschauungen nebeneinander existieren und nicht überwunden werden können, führte schließlich zu der mittelalterlichen Einsicht, dass Pluralität Toleranz verlangt.

„Von 1618 bis 1648 tobte in Europa der Dreißigjährige Krieg, ausgelöst durch religiöse Intoleranz. Es kamen damals prozentual mehr Menschen um, als im Ersten und Zweiten Weltkrieg zusammengenommen. Wenn die europäische Zivilisation nicht untergehen wollte, musste sie einen Weg finden, der eine Wiederholung dieses Desasters verhindert. Dieser Weg war mühsam, und er hat einen Namen: "religiöse Toleranz“.“(9) [vgl. Nida-Rümelin]

Erst während der Aufklärung kam es zu einer säkularen Generalisierung des Toleranzbegriffs, der nun zusätzlich verwendet wurde für die Bereitschaft, nicht nur im religiösen, sondern auch im moralisch-philosophischen sowie im politischen Bereich Andersdenkende gelten zu lassen. Große Beiträge zur Toleranzdebatte lieferten dabei zum Teil schon im Vorfeld z. B. Spinoza, Bayle, Locke und Voltaire.

Heute lässt sich rückblickend das Verständnis von Toleranz vier großen Konzepten zuordnen (10):

1. Toleranz: Erlaubniskonzeption - der Minderheit wird etwas gestattet, die Machtfrage ist klar

Hier zeigt eine Autorität Toleranz gegenüber einer Minderheit, deren Wertvorstellung von denen der Autorität abweicht. Die Minderheit erhält die Erlaubnis, ihre Wertvorstellung beizubehalten, solange die Autorität nicht in Frage gestellt wird. Historisches Beispiel: Edikt von Nantes (1598), Heinrich der IV möchte den Konflikt zwischen Katholiken und Hugenotten in seinem Land beenden und erlaubt die Gewissensfreiheit der Hugenotten in Religionsfragen.
Letztlich wird hier Toleranz als disziplinierendes, repressives Mittel zur Stabilisierung der Macht der Autorität eingesetzt, um aufwendige Auseinandersetzungen zu verhindern. Dieses Konzept lässt sich auch heute in demokratischen Systemen in abgeschwächter Form finden, wenn die demokratische Mehrheit als Autorität Lebensweisen von Minderheiten duldet und als Minimalforderung diese Minderheiten schützt. Bsp. Ausnahmegenehmigung für Schächtungen in Deutschland aus religiöser Veranlassung

2. Toleranz: Koexistenzkonzeption - Konfliktveremeidung bei gleich starken Gruppen

Toleranz besteht in Beziehungen gleichstarker Gruppierungen wechselseitig nach der Einsicht, dass zum Erhalt des sozialen Friedens und eigener Interessen die Tolerierung des Anderen das beste Mittel darstellt. Hier ist Toleranz ausschließlich ein Mittel zur Konfliktvermeidung, es gibt keinerlei Übereinstimmung mit tolerierten Wertvorstellungen. Dies ist kein stabiler sozialer Zustand, sollte es zu einer Machtverschiebung kommen, benötigt die eine Gruppe die Toleranz der anderen nicht mehr. Der Toleranzbegriff stellt in dieser Erlaubnis- und Koexistenzkonzeption keinen Wert als solchen dar bzw. beruht auf keinen starken Werten wie Humanität, (Gewissens-)freiheit oder Gleichheit. Vielmehr wird Toleranz in einem pragmatisch-instrumentellen Sinne genutzt. Diese Auslegung der Toleranz hatte sicherlich Goethe vor Augen, als er seine Aussage über die Toleranz, zu finden in Maximen und Reflexionen, niederschrieb:

„Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“ (11)

 
3. Toleranz: Respektkonzeption - Achtung zwischen gleichberechtigten Gruppen

Toleranz wird in Beziehungen zwischen gleichberechtigten Gruppen, die einander achten, gelebt. Ethische Überzeugungen und kulturelle Praktiken dieser Gruppen unterscheiden sich stark, werden aber wechselseitig anerkannt. Die autonom gewählte Position des Anderen wird nicht als unmoralische betrachtet. In der Respektkonzeption speist sich Toleranz aus der Überzeugung, dass auch die anderen religiösen oder weltanschaulichen Gruppen das Recht haben müssen, ihre Überzeugungen zu leben, auch wenn man selber von diesen Überzeugungen nichts hält. [vgl. H. Bedford-Strom, Ratsvorsitzender der EKD]

 
4. Toleranz: Wertschätzungskonzeption - die komplexeste Form 

Hier wird Toleranz in Beziehungen zwischen gleichberechtigten Gruppen betrachtet, die die jeweils anderen Überzeugungen und Praktiken als wertvoll schätzen, wobei die andere Lebensweise aber nicht als ebenso gut oder besser als die eigene angesehen wird. Toleranz auf Ebene der Wertschätzungskonzeption geht über das bloße wechselseitige Respektieren hinaus. Sie schließt ein Gefühl für den Reichtum der jeweils anderen Tradition ein. Auch dann, wenn diese Tradition nicht geteilt wird, kann sie als authentischer Ausdruck der Überzeugung des anderen gewürdigt und in ihrem Wert gesehen werden. Dies ist sicherlich das komplexeste Toleranzverständnis und es wird m. E. selten gelebt, erstens, weil sich heute selten tatsächlich gleichberechtigte Gruppen in herrschaftsfreien Strukturen begegnen, und zweitens sich diese Form der Toleranz nur in Teilaspekten der gelebten Andersartigkeit erreichen lässt. Beispiele für diese Art der wertschätzenden Toleranz lassen sich m. E. im Bereich der Kunst und Literatur finden. 
Auch zwischen Einzelnen, die dann allerdings i. d. R. nicht exemplarisch für ihre Gruppe handeln oder denken, kann diese wertschätzende Toleranz erreicht werden, wobei ich noch einmal darauf hinweisen möchte, dass wir uns immer noch im Bereich widerstreitender Überzeugungen befinden, d. h. wir dürfen hier Toleranz nicht mit Einverständnis verwechseln.

 
Trotz dieser wissenschaftlich abgesicherten erheblichen Verschiebung des ursprünglichen Duldungsverständnis hin zu einer „Akzeptanz einer multikulturellen Menschheitsgesellschaft“ bleibt die grundsätzliche Frage, die auch als die Paradoxie der Toleranz bezeichnet wird: Wie kann man es für moralisch richtig halten, etwas zu tolerieren, das man für falsch hält? 

Letztlich liefert neben dem Ansatz einer allumfassenden Menschenliebe und religiösen Geboten die Erkenntnistheorie drei wesentliche Argumentationsstränge:

1. das Argument des Skeptizismus: Es existieren keine ethischen Wahrheiten. Daraus folgt, dass niemand für sich die Richtigkeit seines Wertesystems beanspruchen kann und daher andere Wertesysteme die gleiche Berechtigung erlangen. 

2. das Argument des Relativismus: Alle ethischen Überzeugungssysteme besitzen die gleiche Wertigkeit, da keines von sich behaupten kann, die absolute Wahrheit zu kennen.

Und 3. das fallibilistische Argument: der Wettbewerb existierender Wertesysteme ist nötig, um die Wahrheitsfindung voranzutreiben. Daher ist jedes Wertesystem selbst von Wert für das Ringen der Menschheit um die Wahrheit.

Mithilfe dieser philosophischen Argumente erkennen wir, dass Toleranz häufig zu Unrecht aus unterschiedlichen Gründen (Unkenntnis, Manipulation, Berechnung, Eigeninteresse, Bequemlichkeit, etc.) in einem nicht passenden Kontext als positiv oder negativ besetzter Kampfbegriff verwendet wird, denn eine tolerante Haltung kann sich nur auf Fragen, Lebensweisen und Handlungen beziehen, die ihren Ursprung in ethischen Wertesystemen haben. Unethische Überzeugungen, moralisch nicht zu rechtfertigende Handlungen und menschenverachtende Rede kann in diesem Grundverständnis grundsätzlich nicht toleriert werden, da sie gar kein legitimer Gegenstand der Betrachtung sind. Freilich stellt sich hier die Frage, was unethische Überzeugungen sind und wir müssen einräumen, dass diese Frage nicht auf dem Boden der eigenen kulturellen Werteordnung beantwortet werden kann, sondern der Gerechtigkeit wegen eine universelle Menschheitsentscheidung sein muss.

Ich habe schon früher darauf hingewiesen, dass es ein Irrtum ist zu glauben, die Toleranz habe etwas mit urteilsloser Beliebigkeit und Gleichgültigkeit zu tun. Im Gegenteil erwächst aus einer toleranten Haltung die Verpflichtung sich mit den Grenzen der Toleranz im gesellschaftlichen Diskurs auseinanderzusetzen und diese deutlich zu machen.

Um es auf den Punkt zu bringen: Eine tolerante Haltung beinhaltet drei Komponenten, erstens, die der Ablehnung eines anderen Wertekonzepts; Überzeugungen oder Praktiken, die wir tolerieren, lehnen wir zunächst als falsch oder schlecht ab. Sonst lägen Indifferenz oder Bejahung vor, nicht aber Toleranz.

Zweitens, die der Akzeptanz. Sie nennt Gründe, weshalb das, was falsch oder schlecht ist, dennoch geduldet werden sollte. Hier wird also eine Balance aus negativen und positiven Erwägungen hergestellt, denn die Akzeptanzgründe heben die Ablehnungsgründe nicht auf, sie stehen nur neben ihnen und geben im Toleranzfall den Ausschlag. 

Schließlich ist noch eine dritte Komponente zu bedenken – die der Zurückweisung. Diese markiert die Grenzen der Toleranz. Ersichtlicher Weise müssen die negativen Gründe gravierender und in einem gewissen Sinne objektiver sein als die erstgenannten der Ablehnung, denn sie lassen sich nicht durch Akzeptanzerwägungen übertrumpfen und gelten allgemein.

Die ehemalige Bundesbeauftragte für Migration Maria Böhmer sagte dazu:

„Toleranz ist ein wesentliches Merkmal unserer freiheitlichen und pluralistischen Gesellschaft. Toleranz hört auf, wenn die Werte unseres Grundgesetzes, wie die Menschenwürde, die Meinungsfreiheit, die Gleichberechtigung der Frau oder die Religionsfreiheit missachtet werden. Für das Zusammenleben in unserem Land ist es von zentraler Bedeutung, dass diese Werte von jedem Einzelnen gelebt werden. Es ist nicht hinnehmbar, wenn Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe oder aus anderen Gründen ausgegrenzt oder diskriminiert werden.
Jeder Einzelne ist gefordert, Vorurteile abzubauen, Hürden zu überwinden und Mauern in den Köpfen einzureißen. Wenn jeder, unabhängig von seiner Herkunft, in seinem persönlichen Umfeld am Arbeitsplatz, in der Schule, im Verein oder in der Nachbarschaft mit gutem Beispiel vorangeht, gelingt das Miteinander in Deutschland noch besser.“  (12)

Man kann aus dieser Analyse aber auch sehen, dass die Toleranz nicht immer das richtige Rezept gegen die Intoleranz ist. Der Rassismus etwa ist eine weitverbreitete Ursache der Intoleranz. Aber wenn wir als Antwort auf rassistische Übergriffe Toleranz fordern, was tun wir da? Wollen wir "tolerante Rassisten", also Menschen, die Rassisten bleiben, nur nicht ihren Überzeugungen gemäß handeln? Nein, wir müssen darauf hinwirken, dass der Rassismus überwunden wird; und das heißt, dass hier schon die Ablehnungsgründe das Problem sind, das Konzept des Rassismus nicht zu den obengenannten ethischen Wertesystemen gehört und damit nicht toleriert werden kann.

Wie können wir also Handlungen, Meinungen oder gar Wertesysteme identifizieren, die zu recht nicht tolerierbar und daher konsequent im persönlichen Umgang, aber auch mit allen Mitteln des Rechtsstaates zurückgewiesen werden müssen?

Ich habe vorhin dargelegt, warum mein eigenes kulturbedingtes Wertesystem nicht ausreicht, um andere Wertesysteme und daraus resultierende Handlungen als grundsätzlich nicht ethisch abzulehnen und aus dem Kanon der tolerierbaren Konzepte auszuschließen. Um eine solche grundsätzliche Zurückweisung rechtfertigen zu können, muss die Zurückweisung auf allgemeinverbindliche Menschheitsentscheidungen fußen. Uns steht m. E. seit 1995 solch ein Instrument zur Verfügung, nämlich die Erklärung der Prinzipien der Toleranz durch die UNESCO. Sie umreißt in fünf Artikeln die Bedeutung der Toleranz für die Menschheit, die Aufgabe der Staaten, die sozialen Dimensionen, Auftrag in Bildung und Erziehung und lobt einen internationalen Tag der Toleranz, nämlich den 16. November aus. 

Ich möchte hier den Artikel 1 verlesen:

Erklärung von Prinzipien der Toleranz

Die Erklärung von Prinzipien der Toleranz wurde auf der 28. Generalkonferenz (Paris, 25.10.-16.11.1995) von den Mitgliedstaaten der UNESCO verabschiedet. 

Entschlossen, alle positiven Schritte zu unternehmen, die notwendig sind, um den Gedanken der Toleranz in unseren Gesellschaften zu verbreiten - denn Toleranz ist nicht nur ein hochgeschürztes Prinzip, sondern eine notwendige Voraussetzung für den Frieden und für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung aller Völker, erklären wir:

Artikel 1: Bedeutung von „Toleranz“
1.1 Toleranz bedeutet Respekt, Akzeptanz und Anerkennung der Kulturen unserer Welt, unserer Ausdrucksformen und Gestaltungsweisen unseres Menschseins in all ihrem Reichtum und ihrer Vielfalt. Gefördert wird sie durch Wissen, Offenheit, Kommunikation und durch Freiheit des Denkens, der Gewissensentscheidung und des Glaubens. Toleranz ist Harmonie über Unterschiede hinweg. Sie ist nicht nur moralische Verpflichtung, sondern auch eine politische und rechtliche Notwendigkeit. Toleranz ist eine Tugend, die den Frieden ermöglicht, und trägt dazu bei, den Kult des Krieges durch eine Kultur des Friedens zu überwinden.“

1.2 Toleranz ist nicht gleichbedeutend mit Nachgeben, Herablassung oder Nachsicht. Toleranz ist vor allem eine aktive Einstellung, die sich stützt auf die Anerkennung der alpgemeingültigen Menschenrechte und Grundfreiheiten anderer. Keinesfalls darf sie dazu missbraucht werden, irgendwelche Einschränkungen dieser Grundrechte zu rechtfertigen. Toleranz muss geübt werden von einzelnen, von Gruppen und von Staaten. 

1.3 Toleranz ist der Schlussstein, der die Menschenrechte, den Pluralismus (auch den kulturellen Pluralismus), die Demokratie und den Rechtsstaat zusammenhält. Sie schließt die Zurückweisung jeglichen Dogmatismus und Absolutismus ein und bekräftig die in den internationalen Menschenrechtsdokumenten formulierten Normen.

1.4 In Übereinstimmung mit der Achtung der Menschenrechte bedeutet praktizierte Toleranz weder das Tolerieren sozialen Unrechts noch die Aufgabe oder Schwächung der eigenen Überzeugungen, aber gleichzeitig auch Anerkennung der gleichen Wahlfreiheit für die anderen. Toleranz bedeutet die Anerkennung der Tatsache, dass alle Menschen, natürlich mit allen Unterschieden ihrer Erscheinungsform, Situation, Sprache, Verhaltensweisen und Werte, das Recht haben, in Frieden zu leben und so zu bleiben, wie sie sind. Dazu gehört auch, dass die eigenen Ansichten anderen nicht aufgezwungen werden dürfen.

 

Aus unserer Einladung wissen Sie, dass wir uns Ihnen heute als Freimaurerinnen vorstellen. Meine Entscheidung Freimaurerin zu werden wurde von Wissen getragen, dass ich mich den Werten Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, der Toleranz und Humanität verpflichte. 

Was fordert nun konkret der Anspruch Toleranz zu üben von uns allen?

Zunächst ist Tolerantsein einmal sehr unbequem. Wenn man sich nämlich mit Wertekonzepten anderer auseinandersetzen muss, zumal wenn man sie selbst nicht teilt, wird von einem Offenheit und Geduld verlangt. Gleichzeitig wird man seine Positionen und Einstellungen schärfen und hinterfragen müssen. Freilich kann das auch sehr bereichernd sein, denn es kommt dabei häufig zu einer Erweiterung des eigenen Selbst.

Weiterhin ist ein lebenslanges Lernen Grundvoraussetzung, denn wir können nur andere Positionen und kulturelle Besonderheiten wertschätzend betrachten, wenn wir sie zumindest in einem bescheidenen Maße kennen. 

Wahrscheinlich ist aber die Zurückweisung nicht tolerierbarer Handlungen, Äußerungen und Meinungen die schwierigste Aufgabe bei einer toleranten Haltung, denn sie erfordert eine gründliche gesellschaftliche Auseinandersetzung, eine konsequente Unterstützung des Rechtsstaates auf Basis unseres Grundgesetzes und ein klares Eintreten gegen Menschenrechtsverletzungen sowie eine zugewandte, unterstützende Hinwendung zu Menschen, die unserer Hilfe bedürfen. 

In diesem Verständnis hat meines Erachtens das Konzept der Toleranz tatsächlich das Potential, auf viele Probleme in unserer immer komplexer werdenden Gesellschaft Antworten zu finden und ein friedlicheres Miteinander zu ermöglichen. Dies setzt allerdings voraus, dass ein lebhafter gesellschaftlicher Diskurs geführt wird, nicht nur innerhalb der eigenen Blase, sondern über Interessengemeinschaften, sozialen Schichten und Ländergrenzen hinweg. Toleranz ist also nicht nur Zumutung oder mögliche Überforderung, sondern auch ein Ausdruck menschlicher Reife, eine zivilisatorische Leistung, die den Menschen wachsen lässt und ein friedliches Zusammenleben ermöglicht. In diesem Sinnen ist sie eine (mit den Worten Joachim Gaucks gesprochen)“beglückende Tugend“. „Darüber hinaus ist Toleranz zu leben aber auch ein Gebot der politischen Vernunft. Sie legt uns nahe, den Raum, in dem wir leben, nicht voreilig in Gut und Böse zu unterteilen, sie hilft vor allzu schnellen Lagerbildungen, bei denen sich Gruppen voneinander abkapseln oder nur noch in Frontstellung zueinander gehen.“ (13) Diese Ausprägung der Auseinandersetzung erleben wir zurzeit in unterschiedlicher Schärfe in verschiedenen öffentlich geführten Diskussionen, sie können den gesellschaftlichen Zusammenhalt und unser Miteinander gefährden. Toleranz ermöglicht dagegen einen weiten Debattenraum, der es demokratischen Systemen ermöglicht prozesshaft Lösungen zu entwickeln, wobei in notwendigen Kompromissen Uneinigkeit die Regel bleibt, und gleichzeitig Staat und Individuum die Möglichkeit erhält, wehrhaft gegen nicht tolerierbare Wertesysteme, Überzeugungen und Handlungen vorzugehen.

 

Literatur:
(1) Mill, John Stuart, Über die Freiheit. Reclam, 2009
(2) Mitcherlich, A., Toleranz – Überprüfung eines Begriffs. Frankfurt/Main 1974
(3) Voltaire, Über die Toleranz. Berlin 2015
(4) Meiner (Hrsg.), John Locke. Ein Brief über Toleranz, Philosophische Bibliothek, 1996
(5) Forst, Toleranz. Philosophische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis einer umstrittenen Tugend. Campus Verlag, 2000, (Hrsg.) und Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs. Suhrkamp Verlag, 2003
(6) z. B. in: Toleranz – uni-muenster.de und Toleranz – aseminar.schule.de, Lexikon Philosophie. Hundert Grundbegriffe, Reclam, 2011, Kunzmann, dtv-Atlas Philosophie. dtv-Verlagsgesellschaft, 2011
(7) Lehmann, Toleranz u. Religionsfreiheit, Herder Verlag Freiburg 2015; S. 20
(8) H. Schilling: Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs, München 2012, S. 627
(9) Julian Nida-Rümelin: Die philosophische Perspektive: Toleranz hielt Zivilisation am Leben, in Toleranz : philosophische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis einer umstrittenen Tugend / Rainer Forst (Hg.)
(10) frei nach Forst, Toleranz. Philosophische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis einer umstrittenen Tugend. Campus Verlag, 2000, (Hrsg.) 
(11) Goethe, Maximen und Reflexionen. Aphorismen und Aufzeichnungen. Max Hecker [Hg.], Weimar 1907
(12) https://www.n-tv.de/wissen/Toleranz-meint-auch-Verstaendnis-article6371346.html
(13) Gauck, Toleranz einfach schwer.Verlag Herder, 2019, S. 208